Die Wanderer

Wenn man eine Produzentengalerie betreibt, besteht ein Großteil der Zeit als Galeristin darin, dem zähen Fließen der Zeit mit produktiven Arbeiten zu begegnen. Umso schöner sind die Gespräche mit den Menschen, die durch die Tür treten. Neulich betrat eine ehemalige Lehrerin die Galerie und war innerhalb kurzer Zeit in ein Gespräch mit Luiza in ihrer Muttersprache vertieft.

Auch wenn es eher das Ziel ist, Ihre Kommunikation auf Deutsch mit wildfremden Menschen zu verbessern, schritt ich nicht ein und verfolgte mit Interesse die Unterhaltung. Man sprach u.a. über die Peredwischniki (zu deutsch „Wanderer“-Bewegung), die sich 1870 in St. Petersburg im Widerstand gegen die akademischen Doktrinen gründete. Ihr gehörten mit der Zeit alle auch heute noch bekannten Avantgardisten wie Kramskoi, Schischkin, Repin, Lewitan usw. an.

Mich triggerte die Erwähnung und ich fand mich vor meinem inneren Auge zurückversetzt in den Dezember 2021, als ich kurz vor Kriegsausbruch in Moskau weilte. Einer der Vertreter dieser Künstlervereinigung wurde in Mariupol geboren und ist ein gutes Beispiel für die Disonanz von Kulturerbe und Nationalismus. Ich rede von Archip Iwanowitsch Kuindschi, dessen Werke mit das Beeindruckendste waren, was ich in der Tretjakow-Galerie sah.

Sein berühmtestes Werk „Mondlicht am Dnepr“ hängt im Russischen Museum (!) in St. Petersburg, Versionen davon in besagter Moskauer Galerie, aber auch in Simferopol, Weißrussland [sic!] oder Kiew.

Das ihm gewidmete Kunstmuseum in Mariupol wurde nur 3 Monate nach meinem Tretjakow-Besuch durch einen Luftangriff der russischen Armee zerstört. Viele Bilder verschwanden.

Ich war nur einmal in der Ukraine, als Abiturient mit dem Freundschaftszug auf Jugendtourist-Reise nach Kiew. In Erinnerung blieben mir vor allem alte Leute, die deutsche Laute vernehmend, sehr böse schauten und schimpften sowie die Ignoranz meiner Mitschüler, die gestikulierend am hölzernen Kassehäuschen auf deutsch mit „Zweimal“ ihre EIntrittskarten orderten und mich in einem Gefühl des Fremdschämens zurückließen.

In Erinnerung blieb mir auch der Besuch des Nationalen Museums der Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg ob der Monumentalität der Anlage, der inszenierten breiten Granitfusswege, die zum Museum mit der riesigen Mutter Heimat-Statue darauf führten. Von einem Leonid (Breshnew) 1981 eröffnet, vom Anderen (Kutschma) zum Nationalmuseum erhoben.

Auf dem riesigen Schild der Mutter Heimat prangte bis 2023 das Wappen der Sowjetunion, seitdem der Dreizack der Ukraine.

Als ich neulich mit Luiza nach Berlin zum russischen Konsulat fuhr, fragte sie mich nach der Bestimmung des ebenso protzigen Gebäudekomplexes auf der Wilhelmstraße, den wir passierten. Ich antwortete, das dieses Gebäude als Reichsluftfahrtministerium gebaut wurde, zu DDR-Zeiten „Haus der Ministerien“ hieß und nach der Wiedervereinigung als Sitz der Treuhandanstalt und nun als Bundesfinanzministerium dient.

Ironie, das trutzige Symbole der Macht und Stärke den Untertanen zu jeder Zeit und in jedem System signalisieren, was sie erwartet. Manchmal in der Geschichte mutieren sie aber auch zum letzten Zufluchtsort und Asyl der Verwalter und Verwirrten, wenn mal wieder friedliche Wanderer auf den Straßen von Veränderung künden.